Archiv für Autobahn- und Straßengeschichte

Geschichte & Verwaltung | Zeichen, Male & Inschriften am Wegesrand

Ein unbekanntes Kleinod aus der Kutschenzeit

  1. Die Wegmarke in Bad Homburg – Ober-Eschbach

    „Der hat schon immer dort gestanden“ meinte Friedel Pleines, der langjährige Ober-Eschbacher Ortsvorsteher, lakonisch in heimischer Mundart. „Kein Mensch hat sich drum gekümmert und die meiste Zeit war er ohnedies von Gras und Disteln überwuchert“. Und er fährt fort: „Ich habe ab und zu das Gras gemäht und darauf geachtet, dass der Stein nicht wegkommt.“

    Die Rede ist von dem ‚Kilometerstein‘ in Bad Homburg Ober-Eschbach auf Höhe der neuen Feuerwache. Im Zuge des Neubaus wurde an dieser Stelle der Ober-Eschbacher Straße ein Stück Fußweg angelegt, so dass der Stein jetzt gut sichtbar auf dem schmalen Grasstreifen zwischen Straße und Gehweg steht. Zuvor hatte er jahrzehntelang völlig unbeachtet, weil an der Böschung des Wasserabzugsgrabens zumeist von Gras überwuchert, sein Dasein gefristet.

    Bild1 Bild2
    Bild 1 + 2: Der Kilometerstein auf dem 140 cm breiten Grasstreifen
    (links; Blickrichtung Ortsmitte) und Blick auf den ursprünglichen Zustand der Straßenböschung (rechts; Blickrichtung Frankfurt)

    Wie alt der Stein ist, wusste Friedel Pleines nicht. Auch das Stadtarchiv sowie Heimatforscher Heinz Humpert im benachbarten Bad Homburger Ortsteil Gonzenheim konnten nichts dazu sagen. Aus der Beschriftung ließ sich prima vista ableiten, dass er aus einer längst vergangenen Zeit stammen musste.

    Wer hat den Kilometerstein aufgestellt?

    Neugierig geworden, haben eigene Recherchen folgendes ergeben: Am 12. August 1896 erließ die Regierung des Großherzogtums Hessen-Darmstadt ein Gesetz zum Straßenwesen, mit dem die Landstraßen in die Hände der insgesamt 18 Kreisverwaltungen übergeben wurden. Großherzog Ernst Ludwig (reg. 1892 – 1918) förderte ab diesem Zeitpunkt den Neu- und Ausbau der Straßen mit namhaften Geldern, um Gegenden ohne Eisenbahn besser zu erschließen, Straßentransporte in und zwischen den drei Provinzen Starkenburg, Rheinhessen und Oberhessen zu erleichtern und die Wirtschaft zu beleben.1

    Für die Straßen ab dem Ortsende des Dorfes Ober-Eschbach war der Kreis Friedberg, Provinz Oberhessen, zuständig. Demnach hat die großherzogliche Kreisverwaltung den ‚Kilometerstein‘ im Jahr 1896 oder 1897 aufstellen lassen. Wann zuletzt seine Beschriftung mit weißer Farbe akzentuiert wurde, lässt sich heute nicht mehr feststellen.

    Der insgesamt 104 cm hohe sichtbare Teil des Steins ist im Kopf leicht trapezförmig, im davon abgesetzten Fußbereich rechtwinklig geformt. Früher war von dem Kilometerstein nur der rund 45 cm hohe Kopf zu sehen; der behauene und unbehauene Fußbereich steckte in der Erde.

    Welche Funktionen hatte der Kilometerstein?

    Ähnlich wie bei den preußischen Meilensteinen dienten solche Wegsteine zur Wegweisung und Nennung von Entfernungen. Das waren seinerzeit die einzigen Orientierungsmöglichkeiten für die Straßenbenutzer (Fuhrwerke, Kutschen, Viehtreiber, Handkarren, Fahrradfahrer, Fußgänger). Zusätzlich markierten die Steine die Verantwortungsbereiche für Straßenbau und Straßenunterhaltung 2 . Als Wegmarken erfüllten sie somit wichtige amtliche Aufgaben.

    Bild3 Bild4
    Bilder 3 + 4: Frontansichten des Kilometersteins mit den Aufschriften in Fahrtrichtung Frankfurt (links) bzw. in Fahrtrichtung Dorfmitte (rechts)

    Bild5
    Die Entfernungsangabe „Frankfurt Zeil 12,2 km“ wird heutige Verkehrsteilnehmer erstaunen, denn übliche Routenplaner rechnen von Ober-Eschbach bis zur Hauptwache mit einer Distanz von rund 16 Kilometern. Um 1900 fuhren die Kutschen und Pferdegespanne jedoch auf der Landstraße über das Dorf Nieder-Eschbach, die Frankfurter Ortsteile Bonames und Eschersheim, und weiter über die Eschersheimer Landstraße zum Eschenheimer Tor und die Hauptwache direkt zur Zeil. Der Referenzpunkt für die Entfernungsmessung war das „Rote Haus“, die vormalige Thurn und Taxis-Poststation auf der Zeil, seit 1866 preußisches Oberpostamt, das ungefähr an der Stelle des heutigen Shopping-Centers MyZeil stand 3 . Die Beschriftung „Ober Eschbach 0,7 km“ gibt die Entfernung bis zur Ortsmitte am Kirchplatz an. Die Beschriftung „Ober Eschbach 0,7 km“ gibt die Entfernung vom Standort des Kilometersteins bis zur Ortsmitte am Kirchplatz an.

    Bild 5: Ausschnitt aus Ravensburg-Karte von 1905 mit der eingezeichneten Route von Ober-Eschbach nach Frankfurt (blau)4

    In diesem Zusammenhang soll daran erinnert werden, dass seit Beginn des Kurbetriebes um 1850 konzessionierte private Fuhrunternehmen und je nach Bedarf auch Lohnkutscher aus Homburg auf dieser Straße zusätzlich zur Thurn und Taxis-Post Personentransporte nach und von Frankfurt durchführten. Mit der Eröffnung der ab 1852 durchgehend von Kassel bis Frankfurt befahrbaren Main-Weser-Bahn gab es außerdem einen Regelverkehr für Kurgäste von und zur Eisenbahnstation Bonames (siehe Bild 5 mittig rechts). Das setzte sich auch nach dem Start der Homburger Eisenbahn im Jahr 1860 fort, weil Bahnreisende das Umsteigen am Main-Weser-Bahnhof in der Frankfurter Gallusanlage vermeiden wollten. Mit Eröffnung des Frankfurter Hauptbahnhofes 1888 verbesserte sich die Umsteigesituation für Passagiere jedoch deutlich. Dennoch blieben Kutschen bis zum Aufkommen der ersten Motortaxis am Anfang des 20. Jahrhunderts immer noch das wichtigste Transportmittel für den Nahverkehr.

    Abgrenzung der Verantwortung für Straßenabschnitte

    Die seitliche Aufschrift „3,0“ auf dem Stein erklärt sich nicht von selbst. Die Ziffern bezeichnen Beginn und Länge des außerörtlichen Straßenbereichs, für den die Kreisverwaltung zuständig war. Damit wurde die finanzielle Verantwortung für Bau und Unterhaltung zwischen Kreis und Gemeinde eindeutig getrennt. Die unterschiedliche Typografie weist darauf hin, dass die kleineren Zahlen auf der Gehwegseite nachträglich eingemeißelt wurden.

    Die Grenze zwischen der Ortsdurchfahrt und dem Beginn der Kreisstraße bestimmte die örtliche Bebauung. Am Ende des sogenannten ‚Straßen-Anbaus’ einer Kommune begann die Kreisstraße. Wuchs die Ortschaft, wurden die Grenzen entsprechend verschoben. Die seitliche „3“ gab die Länge des unter Provinzialverwaltung stehenden Straßenstücks bis zur nächsten Ortsdurchfahrt an6 . Der auf der Oberseite zur Straßenseite hin mittig eingelassener eiserner Knopf kennzeichnet den Messpunkt.

    Bild6 Bild7 Bild8
    Bilder 6 - 8: Seitenansichten (links zur Ober-Eschbacher Straße, rechts zum Gehweg) und Draufsicht der Wegmarke)

    Regeln für Bau und Unterhalt der Straßen im Großherzogtum Hessen-Darmstadt ab 1896

    Die Gemeinden mussten die Kosten für die Neuanlage einer Gemeindestraße und deren Unterhaltung, ebenso die Erneuerung innerörtlicher gepflasterter Fahrbahnen bzw. die Änderungen an der Fahrbahndecke, die befestigten Gehwege sowie die Wasserableitungs-Einrichtungen, Gossen und Querrinnen selbst tragen. Der Ersatz einer chaussierten innerörtlichen Fahrbahn durch eine Decke aus Kleinpflaster galt allerdings als Unterhaltungsarbeit; diese Kosten wurden zwischen Kreis und Kommune geteilt. Die Unterhaltung einer unveränderten Ortsdurchfahrt im Zuge einer Kreisstraße ging dann zu Lasten der übergeordneten Verwaltung, wenn sich eine Gemeinde selbst nicht in der Lage sah, für die Instandhaltung zu sorgen.7

    Mit vorausschauendem Blick auf den schon um die Jahrhundertwende aufkommenden Kraftwagenverkehr entließ die Darmstädter Regierung mit Gesetz vom 12. Juli 1902 die Kreisverwaltungen aus der Verantwortung für die Landstraßen. Das Straßennetz ging ab diesem Zeitpunkt mit allen Rechten und Pflichten in das Eigentum der Selbstverwaltung der drei großherzoglichen Provinzen Starkenburg, Rheinhessen und Oberhessen über. Die Oberaufsicht und abschließende Entscheidungsbefugnis zu allen wesentlichen Verwaltungsvorgängen (Unterhalt, Neu- und Umbau, Erlass technischer Vorschriften, Richtlinien für die Einstellung technischen Personals) lag ab 1902 beim Darmstädter Minister des Innern. Diese Regelung galt formal auch für den Volksstaates Hessen bis 1945.

    Denkmalschutz

    Wegen der verkehrshistorischen Bedeutung dieses seltenen Relikts aus der Kutschenzeit sollte das Landesamt für Denkmalpflege Hessen den Wegweiser alsbald in das Denkmalverzeichnis aufnehmen.

    Der Stein ist am jetzigen Standort direkt neben der Straße gefährdet. Ein Unfall könnte ihn zerstören, Streusalz und Spritzwasser seine Substanz zersetzen. Deshalb sollte sich das Bad Homburger Amt für Denkmalpflege Gedanken zum dauerhaften Schutz des Kleindenkmals machen. Zweckmäßig wäre, den Stein neben den Gehweg auf die Wiese des Feuerwehrhauses zu setzen und mit Platten oder Pflastersteinen zu umgeben, damit er beim Rasenmähen nicht beschädigt wird. Damit wäre er rund 3 Meter von der Straße abgesetzt.


     
  2. Die Wegmarke in Frankfurt – Nieder-Eschbach

    Als in Frankfurt-Nieder-Eschbach die Kreuzung der Homburger Landstraße (L 3003) mit der Deuil-La-Barre-Straße (L 3472) um- und ausgebaut wurde, tauchte unversehens ein weiterer Wegweiser auf. Er ist weniger gut erhalten als der in Ober-Eschbach. An den Spuren im Kopfbereich lässt sich erkennen, dass hier der Greifer eines hydraulischen Baggers unsanft angesetzt hatte, als der Aushub für den Wegebau stattfand.

    Der Stein steht so wie früher direkt an die Einfahrt in den Kreisverkehr, d. h. nur der rund 44 cm hohe Kopf ist sichtbar, der rund 60 cm hohe Fuß steckt komplett in der Erde. Anhand der Entfernungsangabe „Ober-Eschbach 2,7 km“ ist zu vermuten, dass er ursprünglich rund 300 m vor dem heutigen Kreisverkehr, also näher an Ober-Eschbach gestanden hat.

    Bild9 Bild10 Bild11
    Bilder 9 - 11: Entfernungsangaben auf dem Wegweiser in Frankfurt – Nieder-Eschbach

    Rätselhaft ist die Nennung der Entfernung „10,2 km“ bis zur Frankfurter Zeil. Bezogen auf die Beschriftung des Kilometersteins in Ober-Eschbach müsste hier eigentlich 9,5 km stehen. Wie diese Differenz von 700 m zustande kommt, lässt sich heute nicht mehr klären.

    Seitlich auf dem Entfernungsstein ist die Ziffer „1,02“ zu sehen. Sie gibt die in der Obhut der Kreisverwaltung Friedberg stehende Straßenstrecke bis zur Frankfurter Stadtgrenze (Ortsteil Bonames) an. Diese Grenze hat eine sehr wechselvolle Geschichte: Seit dem Mittealter berührten sich hier die Stadt Frankfurt und die Grafschaft Hanau-Münzenberg, später Hanau-Lichtenberg, zuletzt von 1806 -1810 das Fürstentum Hanau, zu deren Territorien Nieder- und Ober-Eschbach gehörten. Nach dem Wiener Kongress verlief hier die Grenze zwischen der Freien Stadt Frankfurt und dem Großherzogtum Hessen-Darmstadt, nach 1866 wurde es die Grenze zwischen Preußen und Hessen-Darmstadt.

    Der mittig im Kopf des Steins eingelassene runde Nagel kennzeichnet – wie bei dem Stein in Ober-Eschbach – den Punkt für die Messung der Entfernungen.

    Daneben ist eine weitere alte Markierung mit der Umschrift „Höhe Stadt FFM“ zu sehen. Es handelt sich um einen geodätischen Höhenfestpunkt der Stadt Frankfurt, der als Ausgangspunkt für technische Höhenmessungen dient(e?). Der Anspruch an stationäre Dauerhaftigkeit und Genauigkeit solcher Markierungen ist 1 mm oder weniger, weshalb es erstaunt, dass in diesem Fall ein eher gefährdeter Kilometerstein als Befestigungspunkt gewählt wurde. Vielleicht hat das aber zu seiner Erhaltung beigetragen.

    Bild12 Bild13 Bild14
    Bilder 12 - 14: Kennzeichen am Wegweiser an der Homburger Landstraße in Frankfurt – Nieder-Eschbach8

    Denkmalschutz

    Ob die Stadt Frankfurt am Main als zuständige Behörde den Wegweiserstein in ihre Liste für Kleindenkmale aufgenommen und/oder beim Landesamt für Denkmalpflege Hessen einen Antrag auf Denkmalschutz gestellt hat, ist nicht bekannt. Da der Stein von Gras umgeben ist, steht zu befürchten, dass er bei der Pflege des Seitenstreifens weitere Beschädigungen erleidet.


1 Das hessische Straßenwesen, Mainz 1928, S. 10 ff.
2 Die uns heute geläufigen und trotz Navigationssystemen immer noch unentbehrlichen Wegweiser mit Entfernungsangaben auf den Landes- und Bundesstraßen sowie die Ortstafeln kamen erst in den 1920er Jahren auf, als der zunehmende Überlandverkehr mit Automobilen eine Verbesserung der öffentlichen Straßeninfrastruktur erforderte.
3 Da Regensburg nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon an Bayern fiel, verlegte das private Postunternehmen Thurn und Taxis 1810 seine Direktion nach Frankfurt und richtete auf der Zeil die Poststation ein. Der Wiener Kongress bestätigte am 20. Mai 1816 den Sitz der Zentrale in Frankfurt. Nach der Deutschen Bundesakte vom 8. Juni 1815 gehörten u. a. die Freie Stadt Frankfurt, das Großherzogtum Hessen sowie das Herzogtum Nassau zur privat betriebenen Thurn- und-Taxis-Post. Deren Monopol endete nach der 1866 erfolgten Annexion Frankfurts durch Preußen mit dem ab 1. Juli 1867 wirksamen Abtretungsvertrag. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Thurn-und-Taxis-Post (Zugriff am 17.03.2021). An der Frankfurter Straße in Nieder-Wöllstadt steht ein gleichartiger Kilometerstein mit der Aufschrift „Frankfurt Zeil 20,8 km“; siehe Das Meilenstein-Journal Nr. 79 vom Juni 2020, S. 61.
4 Karte Kreisarchiv Hochtaunuskreis, HG Slg.1, Nr. 2134 (mit freundlicher Genehmigung)
5 Siehe Gerta Walsh, Am Rande des Kurbetriebes, in: Alt Homburg 27 (1984), S. 127 – 128; Heinrich Jacobi, Die Homburger Eisenbahn und ihre Vorläufer. Ein Beitrag zur Geschichte des Verkehrs, Sonderdruck des Taunusboten Bad Homburg v.d.H. vom 17. Februar – 11. März 1938, S. 24f.
6 Das hessische Straßenwesen, S. 17ff.
7 Ebenda, S. 22f.
8 Bildnachweis: Sämtliche Fotos Privatarchiv Reiner Ruppmann

Reiner Ruppmann, Bad Homburg, September 2017

Das Meilenstein-Journal, herausgegeben von der Forschungsgruppe Meilensteine e.V., wird in seiner Ausgabe Nr. 82 / Dezember 2021 obigen Text veröffentlichen, jedoch ergänzt durch jüngste Entdeckungen weiterer Wegmarken im ehemaligen Oberhessen der Vereinsfreundin Frau Hartmann aus Langen (Hessen). Der vollständige, im Journal abgedruckte Text, kann über die nebenstehende Schaltfläche aufgerufen werden.
Das ARCHIV dankt der Forschungsgruppe Meilensteine e.V. für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.